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Brennpunkt Inkontinenz

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04.07.2023

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Beratung und Versorgung bei schwacher Blase

Obwohl viele Millionen Menschen in Deutschland von der Volkskrankheit Inkontinenz betroffen sind, spricht kaum jemand darüber. Das „Tabuthema“ löst Schamgefühle aus. Betroffene sind der Ansicht, dass es sich nicht um eine „echte“ Krankheit handelt. Inkontinenzpatientinnen und -patienten neigen dazu, sich zu Hause zurückzuziehen. Sie meiden längere Busfahrten oder Theaterbesuche. Ihnen ist ihr „Missgeschick“ peinlich. Neben dem körperlichen Leiden führt der soziale Rückzug zusätzlich zu Angstzuständen und Depressionen.

Nach aktuellen Untersuchungen liegt bei bis zu jedem dritten Menschen über 40 in Deutschland eine Harninkontinenz vor. Unter Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeeinrichtungen wächst der Anteil der Betroffenen auf bis zu 70%. Um die verschiedenen Ursachen für Inkontinenz zu verstehen, muss man wissen, wie eine gesunde Blase funktioniert. Sie ist ein ballonförmiger Muskel im Beckenraum, der von den Beckenbodenmuskeln gestützt und in Position gehalten wird. Ihre Aufgabe ist das Speichern und Abgeben von Harn. Die sogenannte Harnröhre verbindet die Blase mit den Genitalien, worüber der Urin ausgeschieden wird. Die Harnröhre wird durch ringartige Muskeln, die Schließmuskeln, verschlossen, damit kein Urin vorzeitig aus der Blase austreten kann. Hormone tragen zusätzlich zur Gesunderhaltung der Schleimhaut in Blase und Harnröhre bei.

Die Blasenmuskulatur entspannt sich, wenn sich die Blase mit Harn füllt, und zieht sich zusammen, wenn Harn abgegeben werden soll. Nerven übertragen Signale von der Blase an das Gehirn (damit das Gehirn weiß, wann die Blase voll ist) und vom Gehirn zur Blase (damit die Blase wiederum darüber informiert wird, wann die Harnabgabe erfolgen soll). Damit das Harnwegssystem richtig funktioniert, müssen Muskeln und Nerven kooperieren, den Urin in der Blase halten und dann zum richtigen Zeitpunkt abgeben. Wenn Muskeln oder Nerven beeinträchtigt sind, kann dies zu Inkontinenz führen.

Für manche Menschen sind Hilfsprodukte die einzige Möglichkeit, die Symptome so weit in den Griff zu bekommen, um wieder gewohnten Hobbys oder Alltagsgewohnheiten nachgehen zu können. In den regionalen Sanitätshäusern mit dem Lächeln erhalten Betroffene eine ausführliche Beratung zu allen Fragen rund um Inkontinenz. Mit einer Expertin aus einem dieser Sanitätshäuser haben wir über das Thema gesprochen.

„Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie Inkontinenzmaterial mit Kassenzuschuss auch über das Sanitätshaus bekommen können.“

Interview mit Daniela Palm, einer examinierten Altenpflegerin, die sich im Sanitätshaus RECARA in Leverkusen um Wundmanagement, Stoma- und Inkontinenzversorgung kümmert.

SAM: Sie haben mit dem Thema Inkontinenz tagtäglich zu tun. Betrifft die Erkrankung vorrangig Frauen oder sprechen Männer nur nicht darüber?

Daniela Palm: Die Inkontinenz ist heute einer der Eckpfeiler im Bereich Homecare. Zu uns kommen in etwa gleich viele Männer und Frauen. Wer sich wegen seiner Inkontinenz an ein Sanitätshaus wendet, hat sich ja zuvor schon mit seinen Beschwerden auseinandergesetzt und die Schwelle, nicht darüber sprechen zu wollen, für sich überwunden.

SAM: Und trotzdem gilt Inkontinenz als Tabuthema in der Gesellschaft.

Daniela Palm: Oft ist gar nicht das Schweigen das, was lange dauert, sondern die Unwissenheit. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie Inkontinenzmaterial mit Kassenzuschuss auch über das Sanitätshaus bekommen können. Hinter vielen Kundinnen und Kunden, die zu uns kommen, liegt deshalb oft schon ein langer Leidensweg. Viele versorgen sich erst mal mit Vorlagen bspw. aus der Drogerie und brauchen dann vier, fünf oder sogar mehr pro Tag. Unter Umständen würden viele aber nur zwei Vorlagen täglich benötigen, wenn sie mit den passenden Produkten versorgt würden. Ein ganz großer Teil unserer Arbeit ist daher die Beratung. Leider fangen zum Beispiel viele Betroffene an, weniger zu trinken, in der Hoffnung, die Inkontinenz in den Griff zu kriegen. Das ist aber der falsche Weg.

SAM:Und mit welchen Hilfsmitteln werden Betroffene von Ihnen versorgt?

Daniela Palm: Das ist ganz unterschiedlich. Eine optimale Versorgung sieht bei uns immer so aus, dass die Menschen mit zwei bis drei Inkontinenzprodukten innerhalb von 24 Stunden auskommen. Das können zum Beispiel Einlagen, Vorlagen oder Windelhosen sein. Die Hilfsmittel haben verschiedene Saugstärken, die je nach Schwere der Inkontinenz angepasst werden.

SAM: Was bedeutet eigentlich leichte Inkontinenz?

Daniela Palm: Die leichte Inkontinenz ist im Grunde das, was man zum Beispiel beim Husten und Niesen an Tröpfchen verliert. Für die Schweregrade der Inkontinenz gibt es Richtzahlen: Alles bis 100 Milliliter in vier Stunden zählt als leichte Inkontinenz. Bis 200 Milliliter spricht man von mittelschwerer, ab 300 Milliliter von schwerer Harninkontinenz.

SAM: Und was sind die häufigsten Ursachen für Inkontinenz?

Daniela Palm: Bei Männern sind es vor allem Probleme mit der Prostata. Entweder Probleme, die schon vor einer Operation bestanden, zum Beispiel ein Harnverhalt, oder besonders häufig Inkontinenz nach einer Prostataoperation. Bei Männern vergeht die Inkontinenz dann mit der Zeit häufig wieder. Frauen haben oft schon viel früher mit dem Thema zu tun, manchmal schon ab 40, wenn die Beckenbodenmuskulatur nachlässt. Gerade vielgebärende Frauen haben häufig Probleme mit der Beckenbodenmuskulatur. Bei Frauen hat oft auch der Hormonhaushalt mit der Inkontinenz zu tun. Im Alter sind Frauen und Männer dann gleichermaßen davon betroffen, da das Bindegewebe insgesamt schwächelt und die Toilette einfach nicht mehr so schnell zu erreichen ist wie früher.

SAM: Können Sie uns noch ein bisschen mehr über die Inkontinenzhilfsmittel berichten, die abgesehen von der klassischen Einlage zum Einsatz kommen?

Daniela Palm: Wir unterscheiden aufsaugende und ableitende Inkontinenzprodukte. Für Männer gibt es zum Beispiel Urinalkondome, die auch größere Harnabgänge auffangen, ohne dass gleich ein Dauerkatheter gelegt werden muss. Viele Frauen kennen vielleicht Periodenunterwäsche. In der Inkontinenzversorgung gibt es dazu entsprechende Pendants. Viele unserer Kundinnen und Kunden fragen als Erstes nach den sogenannten Pants. Für viele ist es aber sehr enttäuschend, dass zu diesem Produkt noch sehr viel zugezahlt werden muss.

SAM: Da das Stichwort Zuzahlung gefallen ist, sind die Zuschüsse der Krankenkassen zu Inkontinenzprodukten ausreichend?

Daniela Palm: Die Pauschalen der Kassen decken die Grundversorgung ab und sind sehr knapp bemessen. Neben der Standardversorgung bieten die Hersteller auch Premiumprodukte an. Dies sind innovative und besonders anwenderfreundliche Produkte und unterscheiden sich in der Qualität deutlich vom Standard. Diese Produkte stellen wir den Patientinnen und Patienten zusätzlich in der individuellen Beratung vor, und geben den Betroffenen die Möglichkeit diese kennenzulernen und zu testen. Viele unserer Kundinnen und Kunden wählen deshalb gleich ein Prämienprodukt aus, welches individuell nach den Wünschen und Bedürfnissen ausgesucht wird. Am Ende fühlen sie sich damit sicherer und einfach besser versorgt. Dafür wird eine gewisse Zuzahlung in Kauf genommen.

SAM: Und was ist, wenn jemand nicht die finanzielle Möglichkeit hat, aus eigener Kraft zuzuzahlen?

Daniela Palm: Jeder kann eine zuzahlungsfreie Versorgung von Inkontinenzprodukten erhalten! Grundsätzlich gilt auch hier das Wirtschaftlichkeitsgebot der Krankenkassen, entsprechend müssen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Um dieses zu ermitteln, erstellen wir zu Beginn einen Anamnesebogen, in dem auch mögliche Risiken erfasst werden, wie beispielsweise die sogenannte Inkontinenz-assoziierte Dermatitis (IAD) (Ein Hautproblem, das häufig Menschen mit Stuhlinkontinenz betrifft. Verstärkt wird das Risiko bei bettlägerigen Patientinnen und Patienten. Der ständige Kontakt mit Stuhl und/oder Urin führt zu Hautirritationen, wodurch sich Ausschlag und Ekzeme bilden können, Anm. d. Red.).

SAM: Geht eine Inkontinenz immer mit Hautproblemen einher?

Daniela Palm: Nein, nicht immer, aber häufig. Gerade bei Menschen, die sensible Haut haben, die schnell auf den Urin reagiert. Probleme mit Wundsein sehen wir besonders bei Menschen im Rollstuhl, die viele Stunden auf der Einlage sitzen. Auch Produkte mit der höchsten Saugkraft bleiben dann irgendwann nicht mehr trocken.

SAM: Gibt es „typische“ Einschränkungen bspw. bei sportlichen Aktivitäten, von denen Ihre Kundinnen und Kunden berichten?

Daniela Palm: Ich habe zum Beispiel einen jungen Kunden, dem während einer Operation die Harnröhre verletzt wurde. Er ist seitdem inkontinent. Als aktiver Schwimmer ist er mit aufsaugenden Produkten natürlich nicht ausreichend versorgt.

SAM: Gäbe es da keine Lösung?

Daniela Palm: Doch natürlich. Für solche Fälle gibt es ableitende Hilfsmittel wie z. B. Urinalkondome. Diese ermöglichen ihm auch weiterhin im Schwimmbad aktiv zu sein. Eine individuelle Beratung und Anpassung wird durch unser Haus kostenfrei angeboten.

SAM: Empfehlen Sie bei Inkontinenz auch bestimmte Sportarten?

Daniela Palm: Was ich auf jeden Fall empfehle, ist das klassische Beckenbodentraining. Nachdem die Betroffenen angeleitet sind, können sie dies wunderbar zwischendurch, am Schreibtisch, im Büro oder an der roten Ampel durchführen. Ebenfalls kann Yoga hilfreich sein, denn hier geht es wie beim Beckenbodentraining viel um das Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung.

SAM: Frau Palm, herzlichen Dank für das Gespräch!

Die RECARA GmbH ist ein in Leverkusen ansässiges Unternehmen im Bereich der Gesundheitsbranche. Das Sanitätshaus wurde 2003 übernommen und hat sich in den letzten 20 Jahren als mittelständisches Unternehmen mit 48 Firmenangehörigen in den Bereichen medizinische Reha-Hilfsmittel und Homecare im Rheinland etabliert. Aktuell sind drei examinierte Außendienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter im Bereich Kontinenz als Ansprechpartnerinnen und -partner unterwegs. Mehr über das Sanitätshaus mit dem Lächeln erfahren Sie hier: www.recara.de [2]

Der Text stammt aus dem SANITÄTSHAUS AKTUELL MAGAZIN, Ausgabe 1/2023, Autor und Autorin: Christian Sujata und Sabine Roters
Foto Copyright: © Daniela Palm, © RECARA GmbH